Die Walfangepoche
Mittlerweile war die erfolgreiche Walfangepoche angebrochen, die der Insel relativen Wohlstand einbrachte. Aus fast jeder Borkumer Familie heuerten ab dem frühen 18. Jahrhundert Jungen und Männer auf den Walfangschiffen aus Hamburg, Emden oder Holland an und beteiligten sich an den gefährlichen Einsätzen in den arktischen Gewässern. Nicht wenige brachten es dabei aufgrund ihres seefahrerischen Talents sogar bis zum Commandeur und kamen nach erfolgreichen Fangjahren regelmäßig mit einem beachtlichen Verdienst nach Hause. Aufgrund dieses zunehmenden Reichtums, fingen die Insulaner an, die Infrastruktur auszubauen, die Lebensmittelversorgung selbst in die Hand zu nehmen und die Macht der Vögte zu brechen. Besonders die wohlhabenden und stolzen Walfangcommandeure ließen sich fortan nicht mehr einfach alles vorschreiben.
In dieser Zeit ernährte man sich auf Borkum neben Grütze hauptsächlich von Brot. Das Mahlen des Korns war dabei zuvor lange Zeit Aufgabe der Hausfrauen gewesen, die dies mit Handmühlen – sogenannten Queren – bewerkstelligten. Mit der in der erfolgreichen Walfangepoche stetig zunehmenden Bevölkerung nahm jedoch auch der Bedarf an Mehl und Brot zu. Folglich bat Commandeur Gerrit Daniels Meyer (Bruder des erfolgreichsten Borkumer Commandeurs Roelof Gerrits Meyer) um die Erlaubnis, eine mit Pferden angetriebene Rossmühle in Betrieb zu nehmen, die 1744 errichtet wurde. Die Insulaner waren sofort begeistert von der Mühle, da sie nun nicht mehr mühsam mit der Hand mahlen mussten. Im selben Jahr schließlich eröffnete der aus Emden stammende Bäcker Hinrich Nonnen die erste Bäckerei auf Borkum, die schon bald durch zwei weitere Bäckereien sowie eine zusätzliche Rossmühle ergänzt wurde. Insgesamt existierte nun eine solch ausgereifte Infrastruktur, die es ermöglichte, alle der mittlerweile rund 800 auf Borkum lebenden Menschen mit ausreichend Brot zu versorgen.
In dieser Epoche betrieben die Insulaner darüber hinaus zudem aktiv Ackerbau und bauten Roggen, Hafer, Gerste, Raps, Feldbohnen und Zuckerrüben an. Besonders im Ostland aber auch auf dem Upholm realisierte man intensive Landwirtschaft und wirtschaftlich gesunde Höfe.
Ende der Walfangepoche
Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts sollte der Aufschwung auf Borkum doch leider schnell ein jähes Ende finden. Da die großen Walfanggebiete nämlich mittlerweile nahezu leergefischt waren und der englisch-holländische Seekrieg (1780 – 1783) u.a. zur Gefangennahme zahlreicher Borkumer Seeleute führte, brach eine der wichtigsten Einnahmequellen weg. Die Folge waren Ernährungsengpässe, Armut und erneute Abwanderung. Viele Borkumer – besonders die jungen und kräftigen – verließen in diesen Jahren die Insel, um auf dem Festland bessere Lebensbedingungen zu finden. So halbierte sich die Bevölkerungszahl von einst über 800 Bewohnern bis zum Jahr 1806 auf knapp über 400.
In dieser Zeit vergrößerten sich die Sorgen ungemein. Während die Bäcker teilweise willkürliche Preise für mit gestrecktem Mehl gebackenes Brot verlangten und Arbeitskräfte fehlten, um die bestehenden Wiesen- und Weideländereien in fruchtbares Ackerland umzuwandeln, brachen in vielen Familien große Armut und Hunger aus. Oftmals halfen lediglich Heringsfänge durch den Winter, wie ein Bericht des damaligen Pastors Billker von 1818 unterstreicht. „Wenn die Vorsehung diesen Winter einen strengen Frost und keine Heringe gegeben hätte, so wären hier mehrere Personen vor Hunger gestorben. Denn es gibt mehrere Familien, die – wie mir versichert wurde – des Morgens, Mittags und Abends nichts als Heringe gegessen…“ (Quelle: Beeneken, Unse Karke)
Vereinzelt wurden neben einigen Gemüsesorten damals zudem Kartoffeln angebaut, die Brot als Hauptnahrungsquelle ablösten. Die Not war jedoch seinerzeit so riesig, sodass sich die auf Borkum verbliebenden Menschen – die außerdem noch mit Sturmfluten und Sandverwehungen zu kämpfen hatten – gerade noch so über Wasser halten konnten. Ein damaliger Zeitzeuge war der holländische Gelehrte Mr. J. Ackersdyk, der im Jahre 1826 als einer der ersten Gäste über einen Aufenthalt auf der Insel berichtete: „Es war offenbar, dass hier allgemein Armut herrscht – größer, als wir sie auf irgend einem anderen Eiland angetroffen haben. Alles, was wir sahen und vernahmen, überzeugte uns davon. Das Eiland liefert – insbesondere seit der letzten Überschwemmung – an Lebensmitteln fast nichts mehr, sodass es selbst an Mitteln gebricht, Brot vom Festlande zu erhalten. […] Unsere Quartiersleute lebten äußerst ärmlich; es fehlte zu Hause an den einfachsten Dingen. Obwohl sie bestrebt waren, alles zu holen, zu leihen, zusammenzusuchen, was sie nur konnten, besorgten die Armen uns doch nichts als das allererbärmlichste Unterkommen.“
Die Gäste kommen
Doch ganz nach dem Motto „mediis tranquillus in undis“ (= ruhig inmitten der Wogen) haben sich die Insulaner auch erfolgreich durch diese extreme Durststrecke navigiert – und letztendlich eine neue Einkommensquelle aufgetan. Denn schon bald interessierten sich die ersten Touristen beispielsweise aus Emden für Borkum und verbrachten hier im Sommer ein paar erholsame Tage in der Natur. Zwar gab es damals weder Hotels noch Pensionen, jedoch entpuppten sich die Insulaner schon früh als gute Gastgeber. So boten Borkumer den Gästen Unterkünfte in ihren Häusern und ließen sie ihre Küche benutzen – während sie selbst vorübergehend in Schuppen oder Scheune umzogen. Betten, Geschirr und Lebensmittel mussten die Gäste aber damals vorerst noch selbst mitbringen – oder ersatzweise gegen andere Ware vom Festland eintauschen.
Im Jahr 1840 besuchten bereits 80 Sommergäste die Insel, auf der sich in der Folgezeit eine ausgereifte touristische Infrastruktur mit angemessener Gastronomie und Restauration entwickeln sollte. Nach Anerkennung und Gründung des Seebads Borkum (1850) und der Einführung einer Zugverbindung zwischen Rheine und Emden (1856) kamen immer mehr begeisterte Gäste auf die Insel – im Jahre 1859 bereits über 400. „Das wichtigste Ereignis für die Insel ist die Errichtung einer Seebadeanstalt geworden, zu der bereits im ersten Drittel dieses Jahrhunderts – hauptsächlich durch Emder Kaufleute – der Grund gelegt wurde. In erster Reihe waren es Emder Beamte, die samt ihren Familien ihre Amtsferien auf der schönen Nachbarinsel zu verbringen begannen, was ihnen durch die äußerst niedrigen Preise sehr erleichtert wurde“, erklärt Jan Schneeberg.